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Manfred Joh. Böhlen:
Die Solokonzerte Bruno Madernas. Fragment 1986-1988.

Leseprobe:
Konzert für Oboe und Kammerensemble (1962)

Das Konzert für Oboe und Kammerensemble, im folgenden kurz als 1. Oboenkonzert bezeichnet, ist dem Kölner Oboisten Lothar Faber gewidmet. Es steht am Beginn einer ganzen Reihe konzertanter Werke Madernas, die man nachgerade als »Faber-Konzerte« bezeichnen könnte, eine Werkreihe, zu der auch das 2. Oboenkonzert und die Grande Aulodia zählen (wobei diese in ihrer Eigenschaft als Doppelkonzert für Flöte, Oboe und Orchester freilich ebensogut als »Gazzelloni-Konzert« anzusprechen ist). An die Peripherie der Reihe gehören großangelegte Werke, die zwar nicht als Solokonzerte im eigentlichen Sinn zu werten sind, in denen das konzertante Element jedoch eine herausragende Rolle spielt: Die Suite aus der Oper »Hyperion« (aufgeführt 1969 in Berlin) und die monumentale Komposition Ausstrahlung für Frauenstimme, Flöte, Oboe, Tonband und Orchester (UA 1971). Zu nennen ist ferner eine Anzahl solistischer Kammermusikwerke für die Oboe: Aulodia per Lothar für Oboe d'amore und Gitarre ad libitium (UA 1965), Solo für Musette, Oboe, Oboe d'amore, Englischhorn (1 Spieler), das von Faber auch mit der Begleitung eines Tonbands aufgeführt wurde (UA wohl 1971, s. Documenti, S. 299), und Dialodia für zwei Flöten, zwei Oboen oder andere Instrumente, zum ersten Mal wohl innerhalb von Ausstrahlung erklungen. Die Liste verdeutlicht (vor allem dann, wenn man zusätzlich die kaum weniger umfängliche der für Gazzelloni geschaffenen Werke im Blick behält), in welchem Maße sich Madernas Phantasie am Können und wohl auch an den Wünschen befreundeter Interpreten entzündete. In der Bereitwilligkeit, mit der er auf die Bedürfnisse seiner Solisten einging - im Fall Faber fällt vor allem die ausgiebige Nutzung der Sonderinstrumente der Oboenfamilie auf -, wird sein in der Literatur stets hervorgehobenes Musikantentum, »his musikantisch purpose«, wie Claudio Annibale im Grove formuliert, deutlich greifbar.

Mit dem 1. Oboenkonzert tritt eine Reihe von Grundzügen ans Licht, die nahezu alle in den späteren Konzerten wieder aufgegriffen werden und - wendet man den Blick zurück - zum Teil in den früheren wenigstens vorgeprägt sind. Gleichwohl hat Maderna die ihm eigene Konzertform nicht ausschließlich in den »Faber-Konzerten« entwickelt, auch wenn sich ihre Merkmale auf dem Weg vom ersten (wo sie deutlich Gestalt annehmen) zum 2. Oboenkonzert (wo sie ihre bis zum Schluß beibehaltene Ausprägung erhalten) verfestigen. Zwischen die Komposition der beiden Konzerte fällt der größte Teil der Arbeit am Hyperion-Projekt, das nicht ohne Bedeutung für Madernas konzertantes Schaffen bleiben konnte - ist doch die Titelrolle nicht mit einem Sänger besetzt, sondern (wie schon im Radiodrama Don Perlimplin) mit einer Soloflöte! Zum Kern von Madernas Hyperion zählen drei Kompositionen: Dimensioni III, Aria, und Stele per Diotima. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle detailliert auf die zahlreichen Versionen und Aufführungen des Hyperion-Komplexes einzugehen, die Maderna in den Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Oboenkonzert gestaltete. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß bei diesen Aufführungen - meist mit Severino Gazzelloni als Solisten - die Grenzen zwischen Konzert, Orchesterstück und Solokantate fließend wurden und daß ihre große Zahl vielleicht der Grund dafür ist, daß Maderna auf die Komposition weiterer Flötenkonzerte (vom Doppelkonzert, der Grande Aulodia abgesehen) verzichtet hat.[ 1 ]

So lose gefügt Madernas Konzertform bei näherer Untersuchung auch sein mag - und gerade in dieser losen Formung liegt ein Gutteil ihrer Eigenart beschlossen -, so sind doch auf der anderen Seite stilistische Konstanten, die den seit dem 1. Oboenkonzert entstandenen Konzerten gemeinsam sind, nicht zu übersehen. Sie reichen von eher allgemeinen Merkmalen bis hin zu Details, die mit erstaunlicher Hartnäckigkeit beibehalten werden.

Grundsätzlich sind von nun an alle Konzerte dem Typus zuzuschlagen, den man als modernes Virtuosenkonzert bezeichnen könnte - wenn der Begriff Virtuosität nicht auf seine Kardinaltugenden Brillanz und Geläufigkeit eingeschränkt, sondern umfassend verstanden wird. Stets gibt Maderna dem Solisten die Möglichkeit, sich »auszuspielen«, seine Fähigkeit zur Gestaltung - ganzer Abschnitte, kurzer Passagen, auch und vor allem des einzelnen Tones - unter Beweis zu stellen. Das steht sehr im Gegensatz zur Situation des Flöten- und des Klavierkonzerts, in denen, wie oben gezeigt, der Solopart bis zur Gefährdung der Identität des Solisten in das strenge Gefüge des Orchestersatzes integriert ist. Damit ist es nun vorbei, das »post-serielle« Zeitalter ist angebrochen: Solostimme und Orchesterpart fallen auseinander und stehen einander als nur schwer zu vereinbarende Gegensätze gegenüber. Die Entfremdung zwischen Kollektiv und Individuum - um es in eine Madernas Ästhetik durchaus angemessene Metapher zu kleiden - hat zugenommen und scheint kaum mehr zu überbrücken. Konkret schägt sich dies in der geringen Zahl und oft minimalen Ausdehnung der obligat auskomponierten Abschnitte für Solo und Orchester in den späteren Konzerten nieder. In den Momenten, in denen das Orchester in den über weite Strecken monologisierenden Solopart eingreift, geschieht es oft genug mit unmißverständlich aggressiver Geste. Typisch sind massive Bläsereinsätze in großer Lautstärke. Ebenso häufig bescheidet sich das Orchesters während der Soli auf die Bereitstellung eines amorphen Hintergrunds, eines nach Material und Charakter der Führung der Solostimme gänzlich fremden Klangteppichs.

»Entfremdung« also ist die Grundsituation der Konzerte Madernas, ihr Thema, ihr »Programm«. Von hinlänglicher Allgemeinheit, erlaubt es vielfältige und über den bloßen Antagonismus hinausreichende Möglichkeiten zu differenzierter Gestaltung der Tutti/Solo-Beziehung. Ähnliches gilt für den formalen Grundplan, der als Konsequenz des Entfremdungsprogramms den Ablauf bestimmt: In der Regel handelt es sich um eine wechselnde Zahl von Solokadenzen, die durch orchestrale Zwischenspiele verbunden sind und denen eine Einleitung vorangeht.

Der Aufbau der Einleitung gehört bereits zu den angesprochenen Details, deren Grundmuster vom 1. Oboenkonzert an in vielfältiger Abwandlung stets beibehalten wird. Immer ist sie in zwei auffällig kontrastierende Abschnitte geteilt, wobei beide Abschnitte wieder in zwei oder mehr Unterabschnitte zerfallen können. Diese Unterabschnitte verhalten sich zueinander zwar gleichfalls kontrastiv, doch ist der Kontrast zwischen ihnen durch zumindest ein beibehaltenes Merkmal vermittelt. Andersherum: die Einheit des gesamten Abschnitts wird durch die weitere Unterteilung nicht gefährdet. So gliedert sich die Einleitung des 1. Oboenkonzerts in ein Solo mit Orchesterbegleitung und ein Tutti des Kammerensembles. Die beiden Abschnitte unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Besetzung, sondern auch in bezug auf die in ihnen durchgeführte Satzweise. Der erste Abschnitt, ein begleitetes Solo, ist von kammermusikalischer Transparenz und gehört dem seriellen Pointillismus an - wenn auch mit unüberhörbaren Ansätzen zu melodischer Gestaltung. Der zweite, das Tutti, ist von ausgesprochen feld- oder flächenhaftem Charakter; textile Metaphern wie »dicht gewebt« oder »Klangband« drängen sich zu seiner Bestimmung auf. Bei konstant punktueller Satzweise ist der erste Abschnitt in zwei Unterabschnitte gegliedert: Bis zum Ablauf der ersten Hälfte wird der Solist ausschließlich vom Streichquintett begleitet, in der zweiten stehen ihm die suoni fissi zu Seite, um den auffälligsten Unterschied anzuführen. Für die weitere Unterteilung des Tuttis sei hier nur auf die Analyse verwiesen.

Neben dem Phänomen der »doppelten Einleitung« gehört seit dem 1. Oboenkonzert eine Episode zum eisernen Bestand, in der sich der Solist mit homologen oder doch wenigstens eng verwandten Instrumenten des Orchesters zu einem Ensemble zusammenschließt, das wie von ferne die Erinnerung an die konzentrierte Haltung klassisch-romantischer Kammermusik heraufbeschwört. Mit einem veritablen Streichquartett ist im Violinkonzert in dieser Hinsicht wohl ein Höhepunkt erreicht. Im 1. Oboenkonzert ist es die dritte Kadenz, die diesem Muster folgt: Hier kommt es zu einem Trio zwischen Solo-Oboe, Altflöte und Klarinette. Man ist versucht, diese und die entsprechenden Episoden als utopische und/oder nostalgische Inseln der Seligkeit in den zerklüfteten Gefilden der Entfremdung zu deuten.

Im 1. Oboenkonzert ist ferner die auratische Streicherbegleitung in nuce vorgebildet, die in der Mehrzahl der Fälle den stets lang ausgesponnenen Schlußmonolog des Solisten überhöht - auch wenn es sich hier vorerst nur um einen einzigen ausgehaltenen Akkord handelt (»Archi tutti con sordine. Vicinissimo al ponte, sempre ppp e legatissimo« lautet die entsprechende Vortragsbezeichnung).

Schließlich ist auf das Phänomen der Aleatorik hinzuweisen. Ihre Behandlung in den späteren Konzerten folgt grundsätzlich den im 1. Oboenkonzert vorgeprägten Bahnen. In völliger Umkehrung der Verhältnisse des Klavierkonzerts, in dem der Solist bei der Gestaltung der ersten Kadenz einigen Spielraum genoß, im Gegensatz aber auch zu dem, was häufig zu lesen ist [ 2 ], ist nicht der Solopart der Ort aleatorischer Freiheit - im Gegenteil, dieser ist genau fixiert, lediglich auf eine Taktgliederung ist verzichtet. Der Spielraum, den der Solist genießt, geht kaum über das ihm auch in herkömmlicher solistischer Musik verstattete Maß an agogischer Freiheit hinaus. Das mag gegenüber dem seriellen Rigorismus der 50er Jahre im allgemeinen und gegenüber den ersten Konzerten Madernas im besonderen nicht unbeträchtlich scheinen, hat indes mit Aleatorik wenig zu schaffen, will man das Verständnis des Begiffs nicht bis zur Unbrauchbarkeit ausweiten.

[Fußnoten]

[ 1 ]

Dimensioni III für Orchester mit einer Kadenz für Flöte solo, erschien 1965 bei Suvini Zerboni; Aria für Sopran, Flöte solo und Orchester, kam ebenfalls 1965 bei Suvini Zerboni heraus; Stele per Diotima für Orchester mit einer Kadenz für Violine, Klarinette, Baßklarinette und Horn soli wurde 1966 beim Nordeutschen Rundfunk zusammen mit Teilen aus Dimensioni III uraufgeführt.

Dimensioni IV, ein Stück für Flöte und Kammerensemble, wurde 1964 in Darmstadt gespielt und besteht aus Teilen von Dimensioni III und Aria; 1965 dirigiert Maderna in Darmstadt einen Hyperion II mit folgendem Aufbau: Kadenz für Flöte solo mit spärlicher Begleitung - Dimensioni III, Teil 1 und 2 - Kadenz für Flöte solo - Dimensioni III, Teil 3 - Entropia II (i. e. Dimensioni III, Teil 4) - Kadenz für Flöte solo, wobei die Kadenzen heute als verschollen gelten müssen. 1966 folgt in Rom eine Aufführung mit dem Titel Hyperion: Kadenz für Flöte solo mit spärlicher Begleitung - Dimensioni III, Teil 3 - Dimensioni III, Teil 1 und 2 - Aria (vokal). Im selben Jahr erscheint bei Wergo eine Aufnahme unter dem Titel Hyperion III: eine komplexe Zusammenstellung von Dimensioni III, Aria, und Stele (zu den Einzelheiten vgl. Documenti, S. 245ff).

Hyperion II steht vor allem wegen des Wechsels von Kadenzen und obligaten Partien den Konzerten nahe; Hyperion III wegen des Instrumentenwechsels: Gazzelloni spielt nacheinander Pikkoloflöte, Flöte, Altflöte. [ zurück ]

[ 2 ]
Auch Christoph Bitters als Programmtext und Plattenkommentar weitverbreiteter Aufsatz »Bruno Maderna - Komponist und Dirigent« ist in dieser Hinsicht zumindest irreführend formuliert. [ zurück ]

Ende der Leseprobe

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